Fiú

Den Versuch, starre künstliche Hüllen wie Zwiebelschichten abzuschälen, damit der ursprüngliche innere Kern eines Wesens sich wieder zeigen kann, kann ich nur unternehmen, weil ich selbst den Ausgangspunkt und das Ziel dieser Reise kenne. Dabei halte ich an allen Zwischenstationen an, die Fragen aufwerfen. (aus: Abenteuer Vertrauen – Vollkommen, aber nicht perfekt. von Maike Maja Nowak)


[pfotenhilfe-ungarn.de] Aktuelle Beschreibung Oktober 2020:
Rudi war ein Streuner, der mit der Lebendfalle eingefangen werden musste, da er Menschen bisher nicht als vertrauenswürdig empfindet.
Er ist ein sehr ängstlicher kleiner Kerl, den man aber lieber nicht bedrängen sollte, da man hier mit einer Reaktion seinerseits rechnen muss.
Rudi wird nun mittels Resozialisierungstherapie erstmal an den Menschen gewöhnt, bevor man ihn in die Vermittlung nehmen kann.
Haben Sie Geduld auf den kleinen Racker zu warten?

Vor kurzem bekam ich von meiner Freundin ein Dekoschild geschenkt: Man bekommt nicht immer das, was man möchte, weil man was Besseres verdient hat. – Ein Ausspruch, der in Bezug auf Fiú nicht treffender sein könnte. Der kleine Terrier-Mix ist das Allerbeste, das mir nach Gino je hätte passieren können!

Noch bevor ich mich von meinem langjährigen Wegbegleiter und Seelenhund Gino verabschieden musste, war für mich klar, dass ich nach ihm nicht sofort und gleich losrenne, mir einen neuen Vierpföter zu holen, um die „plötzliche Lücke im Leben“ zu schließen.

Auch meinem Umfeld machte ich klar, dass es auf gar keinen Fall auf den Trichter kommen soll, mir einen Hund *Überraschung!* schenken zu wollen. – Wie ich bereits schrieb, bin ich der Typ Hundemensch, der nicht sucht und dann einpackt, sondern sich finden lässt. Vorallem muss man jeden Verlust, ob absehbar oder überraschend auch erst mal verarbeiten, um ehrlich frei für Neues zu sein.

Knapp fünf Monate nachdem Gino gegangen war, wurde ich für eine rumänische Straßenhündin als „nicht gut genug“ befunden und statt einen Lhasa Apso in Not (Gassihunde meiner Jugend) zu finden, stolperte ich über den Link zu einem Terrier-Mix namens Rudi in der ungarischen, staatlichen Auffangstation Tiszakécske.

Trotz, dass er mich vom ersten Moment an verzauberte, war ich mir erst nicht so sicher, ob ich ihn „hinbekomme“, sodass ich noch mit einem anderen Hund von Rudis Pfotenhilfe liebäugelte und für ihn eine Patenschaft einrichten wollte. – Der andere Hund war allerdings schon reserviert.

Da Rudi als Angsthund deklariert wurde, kamen seitens der Pfotenhilfe nur ein sachkundiges Endzuhause oder eine unterstützende Patenschaft in Frage. – Zweites richtete ich erstmal ein; er hatte mich!

Das Tolle an der Pfotenhilfe Ungarn e.V. ist, dass sie ihre Schützlinge nicht nur 1:1 kennen, die Menschen vor Ort – allen voran Gabor (Gründer des Tierschutzzentrums Swiss Ranch sowie 1. Vorsitzender) – sind hochqualifiziert, mitunter offiziell zertifiziert für und im Umgang mit Hunden.

Nachdem der nächste Transport einige Hunde in ihre neuen Zuhause brachte und ich mein Interesse für Rudi ernsthaft bekundete, wurde der kleine Kerl von der Auffangstation ins private Tierschutzzentrum geholt, um seinen tatsächlichen Charakter sowie seine Kooperationsbereitschaft, sich auf Menschen einzulassen, zu checken. – Diese Kompetenz findet man im Auslandstierschutz nicht sehr oft!

Wenige Wochen nach Entdeckung durfte ich Rudi schließlich übernehmen; während alle anderen Adoptanten (ich glaub, der gesamten Tour) mit Leinen zur Abholung kamen, stand ich mit einer mittelgroßen Box da. – Anleinen, geschweige anfassen war ja nicht!

Dank der Ehrlichkeit, Transparenz sowie Kompentenz des Pfotenhilfe Ungarn-Teams wusste ich von Anfang an, woran ich war und was ich im Umgang mit Rudi ohne Wenn und Aber zu beachten bzw. zu bedenken hatte. Ich wusste, dass er a) aktuell gegen Herzwürmer behandelt wurde, b) ihm aufgrund des allgemeinen Streß‘ die Haare hinter den Ohren fehlten und er c) nicht kastriert wurde, um ihn diesbezüglich nicht auch noch zu belasten. Absolut top!

ca. 2,5 Wochen nach Einzug.

Übrigens: Tiere grundsätzlich, aus vorgeschobenen Tierschutzgründen zu kastrieren, stellt genau genommen einen Verstoß gegen geltendes Tierschutzgesetz dar! Die Kastration im Schutzvertrag als verpflichtend zu beschreiben, ist zudem eine nichtige Klausel.

Als Panda seinerzeit zu mir kam, hatte ich meinen souveränen Gino helfend zur Seite. Dieses Mal musste ich es nahezu alleine schaffen: War ich wirklich schon bereit dazu? Hatte ich schon genug gelernt?Ich war es und ich hatte! Dass dieses Fell allerdings nochmal eine Schippe drauflegen würde – weil eben ca. ein Jahr 100% Straße -, sollte mir weitere, wertvolle Erkenntnisse zum Thema bringen.

Das Wichtigste bei unsicheren, verängstigten Hunden ist, sie nicht in ihrer Angst und Unsicherheit durch besonders viel „tröstende“ Aufmerksamkeit zu bestätigen. – Mehr dazu unter Trainingstipps > Angsthunde.

Rudi wurde von mir kurzerhand in Fiú (ungar. für Bub, Junge) umgetauft. Zum Einen war er kein Rudi, zum Anderen hatten wir genug u-i-Hunde in der Umgebung und zum Dritten dürfte es für ihn vertraut gewesen sein.

Am ersten Tag verfiel ich kurzzeitig in den wir-machen-es-dem-Armen-etwas-leichter-indem-wir-ihm-Gewohntes-bieten-Modus, sprich: während Fiú es vorzog in der Box zu bleiben, fuhr ich zu Fressnapf und besorgte eine Packung Stroh, womit ich schließlich die Box ein Stück weit auslegte.

Hiervon Bilder an Gabor gesendet, brachte er mich zu Fiú’s Glück auf den Boden zurück und erinnerte mich auch wieder daran, was wirklich wie zu tun ist: den Hund nicht in seiner Welt belassen, ihm alle Zeit der Welt zuzugestehen, bis er von sich aus kommt, sondern ihn von vornherein mit der Realität konfrontieren und ihn durch jede Lektion souverän und sicher zu führen.

Nun, das tat ich: sei es das Trocken- und Nassfutter, das Fiú ausschließlich aus meinen Händen bekam. Die Hausleine, die ihn zwang, mir überall hin zu folgen, zu erkennen, dass ihm nirgends etwas passiert, wenn er bei mir ist. Mein Arschloch-Modus, in dem ich mich eine Zeit lang wortlos, ohne jede Aufmerksamkeit ihm gegenüber neben ihn auf seinen Platz setzte, ein Buch las, einen Text schrieb oder einfach nur Radio hörte. Ich schlief auch zwei Nächte neben ihm, doch damit tat ich mir selbst absolut keinen Gefallen; ich bin halt keine 25 mehr.

Die Hauptzauberzutat bei fast Allem war Fiú’s Futter: wollte er nicht hungern, musste er sich mit mir auseinander setzen, sich an mir orientieren, mir Aufmerksamkeit entgegen bringen, für mich ansprechbar sein. – Die damalige Kurzarbeit während der Corona-Pandemie spielte mir in dieser Zeit sehr zu!

5 Wochen nach Einzug.

Nichtsdestotrotz war alles Training, das eigentlich ausschließlich auf Alltagssituationen beruhte, für mich sehr zeitintensiv und kraftraubend und für Fiú sicher auch eine große Herausforderung. Doch Terrier sind mitunter hart im Nehmen; wenn sie dann realisieren, dass sie nicht mehr allein da stehen, dass sich jemand ihrer Loyalität würdiges gefunden hat, können sie eine starke Verbundenheit aufbauen.

Heute ist Fiú sehr auf mich fixiert, was Segen und Fluch zugleich ist. Einerseits ist es gut, dass wir uns so schnell und fest zusammen gefunden haben, dass ich mit ihm ohne Leine durchs ganze Dorf laufen kann. Andererseits erschwerte es Jemanden zu finden, der Fiú im Notfall kurzzeitig umsorgen kann.

Fremden Leuten mit Sirenenstimmen und überschäumender Begeisterung ging Fiú von Anfang an aus dem Weg – das fand ich sehr sympathisch, darauf konnte man aufbauen. Einigen verbot ich sogar gänzlich den Kontakt mit ihm, was manchen natürlich aufstoß. Egal! Mein Hund, meine Regeln!

Fiú suchte in kürzester Zeit immer wieder meinen Blick, entweder um mich etwas zu fragen oder mir etwas zu sagen.

Bei den Fragen war unter anderem „Darf ich das essen?“ dabei, wenn er auf unseren Wegen etwas gefunden hatte. – Schnell erkannt und reagiert, konnte ich so von Anfang das eigenmächtige Fressen von Sachen draußen unterbinden! Dies wiederum sichert uns ein Stück weit gegen Giftköder ab. Perfekt! Bis wir diesen Punkt festigen konnten, erwischte Fiú lediglich eine wildlebende Pommes.

gentledog-like kam Fiú seiner Freundin Curly „zu Hilfe“, als diese mit Kumpel Akiro um einen Stecken diskutierte.

Gesagt hat Fiú mir viel und meist ging es hierbei um Gegenstände oder Gegebenheiten, die ihm fremd waren und ihn verunsicherten, wovon eins nach dem anderem in Angriff genommen wurde.

So bspw. klappernde Gullys: nachdem Fiú anfangs bei locker sitzenden Gullydeckel erschrocken zur Seite sprang, gingen wir immer zurück, ich hielt die Leine locker, stellte mich auf den Deckel und fing an, den Deckel zum Klappern zu bringen.

Fiel Fiú’s Anspannung ab, natürlich verkaufte ich dies als Spiel & Abenteuer, das ich im Griff hatte, begab ich mich möglichst stabil in die Hocke, lockte Fiú zu mir, während ich den Deckel weiter klappern ließ. – Fiú geht zwar heute noch nicht selbst über Gullydeckel, aber ich muss mir zumindest keine Gedanken machen, ob und über welche ich laufen kann, um „den armen Kleinen“ nicht neu zu „traumatisieren“.

Alles in allem zeigte sich recht bald, dass Fiú und ich ein perfektes Match ergaben, Arsch und Eimer hatten sich (mal wieder) gefunden!

Während andere „gerettete“ Hunde selbst nach Jahren im neuen Zuhause nicht wirklich frei sind, wagte ich es nach nur sieben Wochen, Fiú in einen „heimlichen“ Freilauf zu lassen – ich entfernte seine Leine während er durch etwas anderes abgelenkt war.

Er tobte ausgelassen mit seinen neuen besten Freunden Monty und Curly (kam am gleichen Tag wie Fiú aus Rumänien), ich konnte in diesem Moment nur alles auf eine Karte setzen … entweder es klappt oder eben nicht … die Hunde am Springen, uns Zweibeiner entgegen … ich setze den Rückruf … und Fiú kommt auf mich zu, als wäre es nie anders gewesen! – Wäre ich noch 25, hätte ich vor Freude wohl etliche Saltos rückwärts geschlagen. Ab diesem Zeitpunkt war es amtlich: Fiú und ich hatten es tatsächlich geschafft!

Damit sich der Terrier-Mix, lt. DNA-Test für Mischlinge eine Kombi aus: Zwergdackel (für die Optik), Prager Rattler, Parson Russell, Deutscher Pinscher und amerikanischer Cocker, nicht irgendwann langweilt und verselbstständigt, begann ich mit ihm eine Ausbildung zum Funksendersuchhund, wobei wir vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie unterstützt werden. Vom MPI erhalten wir Funksender, die Ausbildung gestalte ich selbst.

Im Optimalfall soll man uns in naher Zukunft engagieren können, wenn besenderte Tiere (Zugvögel usw.) ihre Tracker verlieren oder auf ihren Reisen verenden und die Sender nicht nach GPS-Daten gefunden werden können, weil das verendete Tier (mitsamt dem Sender) von einem Raubtier verschleppt oder der Acker, auf dem der abgefallene Sender landete umgepflügt wurde.

Dass von Zeit zu Zeit die Bettwäsche gewechselt werden muss, will der Kleine nicht akzeptieren und versucht sich ständig im Boykott.

Fiú schlägt sich eigentlich ganz gut, wobei sich hier die Fixierung auf mich eher kontraproduktiv zeigt: nicht selten sucht er meinen Blick und fragt mich, wo das Teil sein könnte? Ich wüsste doch sonst auch immer alles! – Blöd.

Bei einer Tierarztuntersuchung in den ersten Monaten stellte sich heraus, dass Fiú auf dem rechten Auge, aufgrund einer Fokusverschiebung blind ist. Um diese Schwäche zu korrigieren bräuchte es flaschbodendicke Gläser, allein mit links kommt er sehr gut zurecht und wenn man es weiß, kann man sich darauf einstellen.

Es muss nicht immer das volle Programm sein. Einfach nur angeschmiegt reicht Fiú völlig, um sich geborgen zu fühlen.

Alles in allem hätte ich es mit einem anderen Hund niemals besser erwischen können, als mit Fiú – ich hoffe, er sieht das auf seine Art ähnlich. Vorallem hätte ich mir nie träumen, geschweige denn erzählen lassen, dass es neben einem Seelenhund auch einen Herzenshund geben kann. Doch so ist es!

Wichtig ist eigentlich immer nur, dass man nicht „länger als nötig“ dem Verlust eines geliebten Tieres nachtrauert, respektive daran festhält, wodurch etwas Neuem eine ehrliche Chance verbaut werden kann.

Alle Unsicherheiten werden wir höchstwahrscheinlich nie ganz weg bekommen, dafür prägt das Leben auf der Straße einfach zu sehr und Fiú wird auf seine Art wohl auch immer ein Stück vorsichtig bleiben. Dennoch verfügt er terrierlike über eine gewisse Portion Risikobereitschaft und hat sehr viel Vertrauen in mich; anders sind unsere Erfolge – worauf wir extrem stolz sein können – in verhältnismäßig kurzer Zeit nicht zu erklären.